Die Mär von den aussterbenden Deutschen
Die Demografie liefert scheinbar immer neue Hiobsbotschaften: Die Geburtenrate sinkt, die Gesellschaft vergreist, die Deutschen sterben aus. Doch Experten warnen vor übereilten Schlüssen: Oft werde mit gewagten Interpretationen lückenhafter Daten Panikmache betrieben.
Kinder in Deutschland - ein Auslaufmodell? Werden die Deutschen schon bald aussterben? Das könnte man glauben, wenn man die öffentliche Diskussion verfolgt. Deutschlands Frauen - speziell die Akademikerinnen - befinden sich demnach im Gebärstreik, weswegen angeblich nirgendwo auf der Welt so wenig Kinder geboren werden wie hier. Doch Experten warnen vor Panikmache durch einen zu laxen Umgang mit demografischen Daten - denn einiges von dem, was berichtet wird, stimmt so nicht.
So sehen es etwa viele wegen entsprechender Meldungen als wissenschaftliche Tatsache an, dass die Deutschen im Jahr 2300 kurz vorm Aussterben stehen werden. Dabei sei schon eine Voraussage für die nächsten 50 Jahre, die einfach die aktuellen Kennziffern ohne mögliche Änderungen umsetze, "eine gewagte Aussage", sagt Christian Schmitt vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW).
Unbestritten ist, dass Deutschland eine niedrige Geburtenrate hat. Doch bei der Berichterstattung werden unterschiedliche Begriffe vermischt: 2004 etwa erreichte die absolute Geburtenzahl mit 705.622 Neugeborenen den niedrigsten Stand seit Kriegsende. Daraus wurde später die Aussage, dass die zusammengefasste Geburtenziffer - die durchschnittliche Zahl an Kindern, die eine Frau in ihrem Leben bekommt - so niedrig sei wie noch nie seit 1945. Das aber ist falsch: 2004 bekam eine deutsche Frau im Schnitt 1,36 Kinder. Während beinahe der gesamten 90er Jahre war der Wert niedriger, etwa 1994 mit 1,24, oder bestenfalls genauso hoch. Und auch 1985 lag die Kennziffer im damaligen Bundesgebiet nur bei 1,28.
Weiter geht es mit der Verwechslung der zusammengefassten und der rohen Geburtenziffer: Die rohe Geburtenziffer gibt die Zahl der Geburten je 1000 Einwohner an. Das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung hatte im März mit der Mitteilung Entsetzen ausgelöst, Deutschland liege in dieser Hinsicht seit mehr als 30 Jahren auf dem letzten Platz weltweit. In der Berichterstattung wurde dies mit der zusammengefassten Geburtenziffer verwechselt, bei der aber laut Eurostat 2003 und 2004 allein zehn EU-Länder hinter Deutschland lagen.
Doch auch die Aussage, Deutschland sei bei der rohen Geburtenziffer seit mehr als 30 Jahren Letzter, stimmt nicht ganz: Laut dem Statistischem Jahrbuch 2005 lagen allein im Jahr 2000 sieben von 69 Ländern unter dem deutschen Wert von 9,3 Geburten pro 1000 Einwohner. Das Berlin-Institut spricht auf seiner Homepage jetzt nur noch davon, dass Deutschland "heute, wie schon vor 30 Jahren", auf dem letzten Platz liege. Im veröffentlichten Buch sei das "in der Tat nicht 100 Prozent korrekt, aber so gut wie", erklärt der Direktor des privaten Instituts, Reiner Klingholz.
Dass auch die übrigen Daten bei der Berichterstattung über das Buch durcheinander gingen, erklärt der Molekularbiologe damit, dass etwa zeitgleich das Statistische Bundesamt die absoluten Geburtenzahlen für 2005 veröffentlicht und vom niedrigsten Stand seit Kriegsende gesprochen habe. Allerdings spricht auch das Berlin-Institut im Buch bei der durchschnittlichen Kinderzahl von 1,36 im Jahr 2004 irreführend von einem "Tiefstand".
Richtig ist, dass die durchschnittliche Kinderzahl pro Frau in Deutschland seit etwa 30 Jahren niedrig ist - aber stabil niedrig. "Da tut sich nicht so viel, wie immer getan wird", erklärt DIW-Experte Schmitt. Bei der anderen Kennziffer gehe zwar die Kinderzahl tendenziell zurück, "aber auch das ist nicht so dramatisch wie behauptet".
Zudem sei die Zahl kinderloser Akademikerinnen nicht so hoch wie behauptet. Auf Grundlage des Mikrozensus wurde etwa berichtet, 40 Prozent der Akademikerinnen blieben kinderlos. Doch die Erhebung fragt nach im Haushalt lebenden Kindern - eine Mutter von drei Kindern, die nicht mehr in ihrem Haushalt leben, gilt so als kinderlose Frau. Eine Statistik des DIW kam denn auch zu anderen Ergebnissen: "Wenn man alle verschiedenen Gruppen von Akademikerinnen zusammen nimmt, kommt man auf etwa 25 Prozent Kinderlose", sagt Schmitt.
Auch der Demografie-Experte Gerd Bosbach sieht in der niedrigen Geburtenrate in Deutschland keinen Anlass zur Beunruhigung. Die seit 30 Jahren konstant niedrige Durchschnittzahl von etwa 1,4 Kindern pro Frau bedeute nicht, "dass wir ein kinderloses, entvölkertes Land sein werden", so der Statistik-Professor. Auch für die Sozialsysteme führten wachsende Zahlen an Rentnern und eine schrumpfende junge Generation nicht automatisch zum Kollaps. Problematischer für die Sozialkassen sei die hohe Arbeitslosigkeit.
Die Berichterstattung über demografische Probleme sehen die Fachleute mit gemischten Gefühlen: Einerseits sei es gut, dass endlich darüber berichtet werde, damit bei der Familienpolitik mehr passiere. Andererseits komme die Darstellung der Einschränkungen oft zu kurz. "Dramatische Informationen erzeugen natürlich zunächst mehr Aufmerksamkeit", sagt Schmitt. Das Problem daran sei, dass "der Ruf nach schnellen Aktionen zur Abhilfe laut wird. Abgewogene, langfristige und koordinierte Maßnahmen treten dann leider meist in den Hintergrund".
Dass sich langer Atem auszahle, zeige Schweden: Trotz hoher Erwerbsbeteiligung von Frauen sei die schwedische Geburtenrate eine der höchsten in Europa.